Augenblicke aus der Nabelperspektive
Die Blumengiesserin

Die Blumengiesserin ist ein Zwischenmensch. Sie ist eine Zwischenmenschfrau. Bevor sie als Mensch wusste, ob sie Blumen mag, ganz zu schweigen, welche Blumen sie mag, hatte sie gelernt, dass eine Mitmenschfrau Blumen mag und diese liebevoll pflegt; auch Blumen geschenkt bekommt und sich darüber freut.
Das hat sie gelernt. Sehr gut hat sie dies gelernt. Von sich selber distanziert, beziehungslos hat sie es gelernt. Zeit blieb ihr nie, sich mit Blumen und Pflanzen auseinanderzusetzen. Das war nicht von Interesse, hätte sie höchstens in der Funktion einer guten Blumengiesserin behindert. Ohne ihr eigenes Ich mit in diese Funktion einzubeziehen, konnte sie sich viel perfekter an den geschenkten Blumen freuen, diese, wie auch die gekauften viel problemloser pflegen. Dafür hatte man ihr Mitmenschenakzeptanz prophezeit, und dass dann auch sie zu den wohl geehrten Mitmenschen gehöre, eine viel geliebte Mitmenschfrau sei. Um diesen Status zu erreichen, der ihr erstrebenswert erschien, musste sie sich selber töten. Sie stand sich im Weg. Ihr Mensch, ihr eigenes Ich, hätte entscheiden wollen, welche Blumen ihr gefallen, wann ihr geschenkte Blumen Freude bereiten, und wie sie Blumen pflegen möchte, einige liebevoll umsorgen, andere gleichgültig verdursten lassen. Für ihr Mitmenschfrausein, waren solche Fragen nur lästig und behindernd. In dem sie den Mensch in sich tötete, gab es keine lästigen Fragen und auch die mühsamen Differenzierungen nicht mehr. Es gab den Mensch in ihr nicht mehr, der sie hätte verraten können.
Sie kaufte Blumen, erhielt Blumen, freute sich darüber, und pflegte diese. Sie war eine gute Mitmenschfrau. Eine, wie all die andern. Sie hatte Erfolg und gehörte dazu. Als Mitmenschfrau, wurde sie von den Mitmenschen aufgenommen und erlebte Mitmenschenliebe.
Sie war glücklich und wurde immer unglücklicher. Diese Zugehörigkeit, dieser Mitmenschenrespekt, diese Mitmenschenliebe machten sie mit der Zeit immer unglücklicher. Zu Beginn wollte sie dies nicht wahrhaben. So lebten ja alle Mitmenschen. Das war Mitmenschenschicksal; vorbestimmt. Das Schicksal das es zu tragen galt, gegen das sich kein Mitmensch zur Wehr setzten kann. Der Lohn für die Zugehörigkeit.
Mit der perfekten Funktion einer Mitmenschfrau versuchte sie den Todesschmerz zu vergessen, den sie erlitten, als sie ihren Mensch getötet hat. Gemeint hatte, ihren Mensch getötet zu haben. Jetzt, bereits im fortgeschrittenen Alter, realisiert die Blumengiesserin eines Tages, das ihr Mensch, ihr eigenes Ich, nicht ganz gestorben ist. Eines Tages hat sich dieses bei ihr bemerkbar gemacht. Sie wurde unzufrieden, weil es sie in ihrer Funktion störte. Es hat gesagt und sich beklagt, dass es in ihrem ganzen Leben nie ein Recht gehabt habe. Jetzt wolle es zusammen mit der Mitmenschfrau leben. Sie muss es akzeptieren, kann es nicht töten. Als Mitmenschfrau muss sie nun mit ihrem gemeint getöteten Menschen, ihrem eigenen Ich zusammen leben. Es will Versöhnung. Die Mitmenschfrau muss sich mit ihrem Mensch -- mit ihrem eigenen Ich versöhnen. Sie kann nicht anders. Ihr eigenes Ich lässt ihr keine Ruhe mehr. Es stört sie nun ununterbrochen in ihrer Funktion, von der sie doch schon so lange müde ist. -- Um wieder Ruhe, Friede und Zufriedenheit leben zu können, muss sie sich mit ihm versöhnen. Sie tut es, und ist Zwischenmenschfrau geworden. Das weiss sie nicht. Das kümmert sie nicht. Das ist ihr egal. Jetzt geht es ihr wieder gut. Das ist die Hauptsache.
Sie hat sich versöhnt mit ihrem eigenen Ich. Das Ärgert die Mitmenschen. Ausschliessen können sie die Blumengiesserin jetzt aber nicht mehr. Noch ist sie eine Mitmenschfrau. Eine mit sich versöhnte Mitmenschfrau. Ist nicht ganz Mitmensch und nicht ganz Mensch -- ist Zwischenmensch. -- Zwischenmensch, die Rettung vor dem totalen Mitmenschendasein, die Rettung vor dem Tod des eigenen Ichs. Der Zwischenmensch ein Schutz vor den Mitmenschen, vor ihrer alles gleichmachenden Macht. --
Seit dem Tag ihrer Versöhnung, versäuft die Blumengiesserin all ihre gekauften oder als Geschenk erhaltenen Pflanzen -- oder sie lässt sie vertrocknen. Versäufen oder vertrocknen lassen, ein reiner Zufall. Das sei das Schicksal. Das stört sie nicht. Das hat sie zu tragen gelernt, die Blumengiesserin. Das Schicksal, das bestimmt, wie oft im Tag, in der Woche oder vielleicht auch nur einmal im Monat, sie an das Blumengiessen denkt; an das, was sie so perfekt gelernt und als Mitmenschfrau manches Jahr auch getan hat.
Am meisten ärgert es die Mitmenschen, wenn die Blumengiesserin, ins Schwärmen kommt, wie sehr sie Blumen möge. Wie gerade Blumen und Pflanzen ihr Leben bunter und schöner machten; ihr Leben bereichern würden. Wie trostlos ihr Leben doch wäre, ohne all ihre Blumen und Pflanzen. Mit solchen Schwärmereien fordert sie die Mitmenschen immer wieder auf, ihr Blumen zu schenken. Dass sie all ihre Blumen und Pflanzen versäuft oder vertrocknen lässt, nimmt sie nicht wahr. Sprechen sie die Mitmenschen darauf an, weil sie ihr Hilfe anbieten möchten, lächelt sie und sagt: Dies sei doch dummes Geschwätz -- Auch der Tod gehöre zum Leben. Jeder Mensch, jedes Tier, und so auch jede Pflanze müsse sterben. Ob sie sich wohl einbildeten, sie selber könnten über Leben und Tod der Pflanzen bestimmen. Das sei das Schicksal der Pflanzen, gegen das man nichts tun könne. Dies sei zu tragen.
Zum Ärger ihrer Mitmenschen, kauft sich die Blumengiesserin ihre Pflanzen selber, wenn ihr die Mitmenschen keine mehr schenken; ungeachtet, was diese auch kosten. Lange genug habe sie sehr sparsam gelebt. Jetzt wolle sie vom Leben noch etwas haben. Das, zum Ärger ihrer möglichen Erben. Die müssen nun zusehen, wie die zuvor so sparsame Frau, all ihr Geld in ihre Pflanzen investiert.
So lebt die Blumengiesserin als Zwischenmensch recht zufrieden, wenn auch von den Mitmenschen etwas verlassen und zurückgezogen.
Sie kauft, versäuft oder lässt vertrocknen -- Blumen und Pflanzen. Grüsst alle Menschen sehr freundlich, oder -- grüsst überhaupt nicht. Damit hat sie keine Sorgen, das realisiert sie nicht. Ihr geht es gut. Dass sich ihre Mitmenschen über sie ärgern, berührt sie nicht. Sie ist sich selber, ist stolz und freut sich darüber. Kummer und Sorgen ihrer Mitmenschen kann sie kaum noch verstehen, weshalb auch diese sie recht gleichgültig lassen.

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