Augenblicke aus der Nabelperspektive

Marie Zimmermann

Marie Zimmermann sitzt in ihrer alten, sehr ordentlich gehaltenen Wohnung. Oder besser, sie sitzt in der Küche ihrer Wohnung, wo sie bereits seit einigen Jahren all ihre Tage verbringt und zum Fenster hinausschaut. Nichtstuend sitzt sie dort, höchstens zum Ärgernis der Nachbarn all die Vögel fütternd, die sie dort täglich auf dem Fenstersims besuchen, wofür sie jedesmal einige Brotkrümel oder Brosamen von Kuchen oder Biskuits erhalten, welche sich Marie Zimmermann von ihrer Haushalthilfe ins Haus bringen lässt -- zur Freude dieser kleinen Besucher, die für sie sehr wichtig geworden sind.
Der Marie Zimmermann geht es mit ihren über 80 Jahren sehr gut. Ihr fehlt nichts, ausser dass ihre Glieder nicht mehr ganz so kräftig sind, wie in ihren jungen Jahren, in denen sie viel arbeiten musste. Trotz ihrem hohen Alter leidet sie unter keinen körperlichen Beschwerden und macht daher einen ganz zufriedenen Eindruck. Sie ist einfach alt und mag nichts mehr tun. Dafür hat sie ja ihre Haushalthilfe, die ihr die Einkäufe besorgt, das Essen zubereitet und ihr auch den Haushalt ordentlich hält. Täglich aber steht Marie Zimmermann rechtzeitig auf, so kurz nach sieben Uhr, was bereits um einiges später sei, als früher, wo sie noch habe arbeiten müssen. Ihre Wohnung verlässt sie bereits seit einigen Jahren nicht mehr, da sie darin keinen Sinn und auch keine Notwendigkeit mehr sehen kann. Es genüge ihr, wenn sie durch das Fenster die Wetterverändrungen wahrnehmen könne, dafür brauche sie ihre Wohnung nicht zu verlassen.
So also verbringt Marie Zimmermann ihre Zeit. Den ganzen Tag schaut sie zum Fenster hinaus und macht ihre Gedankenreisen. Sie habe genügend erlebt, um immer wieder etwas zum Denken zu haben. Manchmal spielt sie für sich alleine auch eine Patience. Wenn sie gefragt wird, wie es ihr gehe, antwortet sie jedesmal: sehr gut, es fehle ihr nichts, und auch schlafen könne sie wunderbar. Diesen Eindruck vermittelt Marie Zimmermann auch den Menschen, die immer etwa wieder in ihre Wohnung kommen, um sie aus ihrer Lethargie, so nämlich wird diese Gemütsverfassung von den Medizinern bezeichnet, herauszuholen. Marie Zimmermann versteht diese Menschen nicht, welche immer wieder meinten, ihr fehle irgendetwas, da es nicht normal sei, ein Leben mit Nichtstun zu verbringen; vorallem dann nicht, wenn einem Menschen eine so gute Gesundheit geschenkt sei, wie dies bei ihr der Fall sei. Nein, sie habe ihr Leben nicht mit Nichtstun verbracht. Enorm schwer und viel habe sie in ihren jüngeren Jahren gearbeitet und möge wohl daher jetzt nichts mehr tun. Marie Zimmermann ist also zufrieden und wartet auf den Moment, wo dann auch sie in den Ewigenschlaf hineinfallen könne. Bis dann aber wolle sie ihre Tage, sofern sie auch noch weiterhin bei guter Gesundheit bleibe, in ihrer Küche auf ihrem Lehnstuhl zusammen mit ihren kleinen Freunden, den Vögeln, verbringen.
Obschon unterdessen kaum noch Menschen vorbeikommen, um sie aus ihrer Wohnung hinaus zu löken oder sie davon zu überzeugen, dass sie ihre Einkäufe doch selber besorgen und sich auch ihre Mahlzeiten wieder alleine zubereiten könnte, bleibt Marie Zimmermann ein Diskussionsthema in den Hilfsorganisationen. Bei denen, die Hilfe anbieten, damit alte Menschen, die eine solche wirklich nötig haben, möglichst lange bei sich zu Hause bleiben können. Dies auch deshalb, weil die meisten Altersheime überfüllt sind; es viel zuwenig freie Plätze gibt, um Menschen aufzunehmen, die nicht mehr alleine zu Hause leben können.
Bei allen Versuchen, Marie Zimmermann zu motivieren, ihren Haushalt wieder selbständig zu besorgen, hat sie immer nur geantwortet: Fräulein Keller besorge ihren Haushalt doch immer sehr gut. Auch die Einkäufe besorge sie ja sehr gerne und bereite ihr jedesmal mit viel Liebe ihre Mahlzeiten zu. Sie sehe nicht ein, weshalb sie dies nun auf einmal wieder tun sollte. Sie sei doch immer sehr zufrieden mit Fräulein Keller gewesen und möchte ihr die Arbeit auf gar keinen Fall wegnehmen. Fräulein Keller sei ja noch jung und arbeite bestimmt gerne noch etwas. Früher habe sie selber sehr viel gearbeitet. Heute aber möge sie dies nicht mehr tun und denke, dass sie die Ruhe mit ihren achtzig Jahren auch verdient habe.
So bleibt Marie Zimmermann für all ihre Mitmenschen eine Provokation, jedoch ohne dies wirklich zu realisieren oder zu verstehen, und verbringt weiterhin ihre Tage nichtstuend in ihrer Küche, bis auch sie eines Tages vom Tod in den Ewigenschlaf hineingeführt wird, wo dann bestimmt niemand mehr die Erwartung an sie haben werde, sie müsse noch irgendetwas tun.

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