Augenblicke aus der Nabelperspektive

Herr und Frau Schweizers Minderheiten

Das Wissen von Herr und Frau Schweizer über Minderheiten ist Popularwissen, ist das Wissen, das sie sich angeeignet haben. Nicht weil sie sich mit Minderheiten auseinandergesetzt haben, oder an Minderheiten interessiert sind. Es ist das, was Herr und Frau Schweizer hören; was ihnen erzählt wird im Büro, beim Einkaufen, auf der Strasse, in der Stammkneipe, überall dort wo sich Herr und Frau Schweizer gerne aufhalten, sich mitteilen und Neuigkeiten vernehmen. Minderheiten sind für Herr und Frau Schweizer wichtig. Die brauchen sie, um zu argumentieren. Vorallem zum argumentieren -- um Meinungen zu vertreten, zu erklären und zu begründen.
Beginnen wir bei den ganz Kleinen; den Kindern. Ob es weniger Kinder als erwachsene Menschen in unserem Land gibt? Das weiss ich nicht, kann man aber annehmen. Wichtig ist nicht, wieviele Kinder zu dieser Minderheit gehören. Alle Kinder gehören dazu. Sie sind eine Minderheit, weil minderjährig. Sie bestimmen die Politik nicht. Sie sind nicht gefragt. Sie produzieren nichts, oder höchstens Lärm und Streit -- nichts brauchbares. Sie müssen noch lernen und geformt werden, solange gehören sie zu dieser Minderheit. Eine Minderheit, die man brauchen kann, zum Argumentieren. Hörte ich doch an einer Talkschow zur Telefonnummer 157, dem Sextelefon, wo man dafür und dagegen argumentierte: Zum Schutz der Kinder müsse das Sextelefon verboten werden. Und es wurde verboten. Herr und Frau Schweizer sehen ihre Kinder in Gefahr, wegen dem Sextelefon, wohl aber nicht wegen den Autos, dem immer kleiner werdenden Wohnraum. Nicht wegen dem Platz, den man den Kindern wegnimmt, bis sie sich kaum noch bewegen können. Nicht wegen der Ruhe, die überall gelebt werden muss, bis sich die Kinder kaum noch ausdrücken können. All das, macht Herr und Frau Schweizer nicht Angst, da bangen sie nicht um ihre Kinder. Das Sextelefon ist es, was ihre Kinder gefährdet, das muss abgeschafft werden.
Oder die Alten. Wer ist schon an alten Menschen interessiert. Auch die produzieren nicht mehr, sind einem höchstens lästig, stehen im Weg und blockieren mit ihrem Tempo unsere Raserei nach Geld und Profit. Um die muss man sich kümmern, die kosten Geld. Auch sie eine Minderheit. Man muss sie akzeptieren, denn Unmenschen sind wir nicht. Sie gehören dazu, wenn auch nur als Minderheit. -- Wird aber Ruhe und Ordnung verlangt, und wird dies auch begründet -- Ja, dann können wir sie brauchen, die Alten. Gerade die alten und hilflosen Menschen seien auf diese Ruhe und Ordnung angewiesen, um doch noch einen kleinen Halt in der Gesellschaft und in ihrem Leben zu haben. Oder streiten Ärzte und Apotheker, wer dass die Medizin, all die Tabletten, Salben und Kräuter verkaufen dürfe -- Ja, dann, kann man sie brauchen, die Alten. Auf Plakaten erscheinen sie nun, um zu werben für die Ärzte und ihren Profit. Als hilflose, gebrechliche Menschen, denen man den Gang in die Apotheke nicht mehr zumuten könne, werden sie gebraucht. Argumente, die kaum gelten, wenn es um Hausbesuche geht. An denen ist wenig zu verdienen, am Tabletten verabreichen dagegen viel. Alt, gebrechlich oder behindert, interessiert niemand. Die sollen zu hause bleiben und uns nicht im Wege stehen. Und doch, brauchen kann man sie gut.
Oder wie einst, als ich den Laden ging, Brot kaufen wollte und sagte: Es sei schade, dass das Brot seit einiger Zeit nicht mehr so gut gebacken werde. Mir zumindest habe es zuvor besser geschmeckt. Da prasselte es auf mich nieder, das Popularwissen. Ja, schade sei dies, meinte die Ladenbesitzerin, und ihre Gehilfin doppelte nach. Nur erstaunen tue es sie nicht. Seit der Tamile das Brot backe und der Bäckermeister, vor dem Haus zu wischen habe -- seit sie dies wisse, verstehe sie. Dieses Brot könne man ja kaum noch essen. Dann wieder die Ladenbesitzerin: Da gebe es nichts zu machen. Nur immer noch mehr würden die ja hereinlassen, von diesem Tamilen, Türken und Jugoslawen. Vor lauter Ausländer, sehe man die Schweizer kaum noch und mit der Zeit könne man nicht einmal mehr Schweizerdeutsch im eigenen Land hören und sprechen. Es erstaune sie nicht, dass der Bäckermeister, nun mit dem Besen vor dem Haus stehe, und der Tamile den Platz in der Backstube eingenommen habe. Sie aber sei da ja nicht gefragt. Nur solle niemand kommen, und sich bei ihr beklagen. Noch viel schlimmer werde es kommen. -- Wenn dagegen nichts unternommen werde, würden die uns eines Tages noch von hier vertreiben Die sollen dort bleiben wo sie hingehören und uns hier in Ruhe lassen. Wenn dies so weiter gehe, müssten wir Schweizer bestimmt eines Tages ins Tamilienland, nach Jugoslawien oder in die Türkei, weil dieses Pack unser Land besetzt, und uns aus unserem eigenen Land vertrieben habe
Es sprudelte und sprudelte, heraus aus ihren Mündern, ihr Popularwissen. Gegenseitig bestätigten sie sich, und freuten sich, doch noch Einigkeit zu haben.
Mir blieben die Worte im Hals stecken. Ich schwieg und ging, ohne Brot. -- Nun werden die Tamilen auch noch für unser schweizer Brot schuldig gesprochen. Ich war entsetzt und sehnte mich nach einem Redeverbot. Das Popularwissen sollte verboten werden. Es aber dehnt sich aus, wächst immer weiter, überall im ganzen Land, dem Unkraut ähnlich. Kann nicht ausgerottet werden, vermehrt sich von Mund zu Mund. ---- Und doch, ich bin gegen Gesetze.

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