Augenblicke aus der Nabelperspektive

Weihnacht 1989
Wie schwer es mir fällt zu schreiben, wenn an Weihnacht Frühling ist, und mich die Massenhysterie bedrückt -- die Weihnacht in Rumänien.
Wenn die Stadt leuchtet und verbreitet -- alle Jahre wieder, Glück und Heil in dieser Welt.
Wie ich sie hasse diese Lüge, die nicht Glück und Heil bedeutet, sondern ein Verbrechen ist.
Nein, nicht ein kleines Verbrechen -- Nicht eine kleine Schandtat -- Keine Tat aus Verzweiflung.
Ein Mörderisches Verbrechen, das wir nie vergessen können. Vor dem wir nie mehr unsere Augen schliessen dürfen, um zu geniessen den Weihnachtsbraten.
Ein Verbrechen, das man nicht bestrafen und nicht vergessen kann; ein Verbrechen der Grosskriminellen, mit Taktik und Provit.
Und wir ?
Wir sagen weiter, schöne Weihnacht, und mussten dafür töten unsere Sensibilität, um zu geniessen -- Den Weihnachtsbraten und das Fest.
Wehe aber dem Menschen, der durchdreht in dieser Verlogenheit, und ein Verbrechen begeht. Der wird verfolgt und bestraft. Der soll sich seiner Schuld bewusstwerden.
Und wehe dem, der all das nicht verstehen kann.

 

Gedu
Gedu gibt es.
Gedu ist wahr.
Gedu geht durch die Gassen.
Gedu teilt sich mit.
Gedu kennt man.
Gedu ist unterwegs.
Gedu kennt niemand.
Gedu gehört zur Stadt.

Gedu ist nicht kriminell. Das weiss nun auch die Polizei. Jetzt ist er ein Stadtidol. Den Gedu gibt es. Den kann man nicht versorgen. Gedu tut nichts, er stört nur gern und will nicht übersehen werden. Gedu kann man nicht übersehen. Gedu hört man. Seine Stimme ist tief, laut und sehr kräftig, wenn er durch die Gassen geht.
Den Gedu gibt es, noch ist er da, und ist schon alt. Er teilt sich mit, ohne zu fragen. Setzt sich hin, dort wo er will, ohne zu fragen. Gedu braucht keine Existenzbewilligung, denn noch ist er da. Noch teilt er sich mit. Singend, Grölend, sprechend, weinend und mit den Händen.
Gedu ist gross und breit.
Gedu stellt sich dir in den Weg, hält dich auf, wenn er mit dir sprechen will, ohne zu fragen.
Mit Gedu spricht niemand. Ihm bietet man keinen Platz an. Er nimmt sich den Platz.
Gedu trinkt nur Alkohol. Das hat er sich verprochen; vor Jahren sich vorgenommen, nur noch Alkohol zu trinken. Gedu ist ein Säufer.
Gedu sagt, sagt es oft und immer wieder: "Schau mir in die Augen. Nur einmal, schau mir in die Augen." Oder: "Du musst nicht weinen. Weine nicht," und weint dabei. Oder: "Ich mache dich kaputt, ich erschiesse dich." Oder er erzählt davon, dass er heute noch jemanden erschiessen werde. Manchmal benennt er sie, die er erschiessen wird; meist Politiker. Gedu hat noch nie geschossen; nur auf sich selber. Gedu macht niemandem etwas. Gedu geht durch die Gassen, ein Bier oder eine Flasche Wein in der Hand gegen den Durst. In den Beizen wird er nicht bedient. Die Zeit ist kurz, wo er dort hocken kann, bis er aufgefordert wird, das Lokal zu verlassen. Bedient wird er nicht. Gedu bedient sich selber. Setzt sich neben diesen, teilt sich ihm mit, und trinkt das Bier von nebenan. Gedu spricht mit diesem und säuft mit jenem; Gedu ist sozial.
Gedu ist ein Mensch, vielleicht ein Zwischenmensch, vielleicht ein einsamer Mensch. Gedu mag man nicht. Dass man ihn akzeptiert ist sein Verdienst. Gedu ist da, gehört zu Stadt und teilt sich mit.

 

Neuzeitlich

Madame geht essen; geht vornehm essen. In ein elegantes Restaurant, mit viel weiss und Gedeck. Sie geht ins Casino, eingeladen von Sebastian. Er will sich und Madame verwöhnen, den Luxus geniessen, der ist auch für sie. Im Bellvue, auch ein Nobelrestaurant, waren sie nicht gefragt. Da wird Schale verlangt, zumindest von ihm. Mann in Schale ist ok. Seine Begleitung, zumindest wenn es eine Frau ist, wird akzeptiert, wenn Mann in Schale. Da wird Kleidung verlangt, zumindest von ihm. Hier representiert er und was Mann in Schale akzeptiert und mit sich führt, wird nicht kritisiert, wird akzeptiert, das wäre indiskret. Das ist Männersache, wenn Mann in Schale. Sebastian war nicht in Schale, war in weiss. Ein weisses Hemd ohne Kravatte und Kittel ist keine Kleidung. Von Madame spricht mann nicht. -- Fürs Casino war dies Kleidung.
Jetzt sitzen sie da. Trinken, essen und geniessen die bestellten Köstlichkeiten -- und die Ambiance -- die war vornehmer als das Essen.
Madame muss einmal. Muss das intime Örtchen aufsuchen, und macht sich auf den Weg, immer den Wegweisern folgend. Sie sucht und findet eine grosse Tür, für Behinderte bestimmt. Dort will sie hingehen, denn die Not ist gross, und keine andere Tür in Sicht. "Der Schlüssel am Buffet verlangen" steht da. Sie kann nicht hinein, der Ort ist nicht für sie. Wegen Menschen wie sie, mussten sie dies so einrichten, sonst würden alle auf die Toilette gehen, die nur für Behinderte bestimmt ist. Das lässt die Moral hochsteigen; Madame erinnert sich, was recht und unrecht ist. -- Sie akzeptiert, geht und sucht weiter. Kommt in Konzertsääle, geht durch lange Korridore, unter schweren grossen Leuchtern durch, aber nirgends mehr ein Schild, das ihr den Weg weisen würde. Sie geht zurück, um sich nicht zu verirren in all den Gängen und Säälen, muss verpasst haben das Schild. Will jetzt noch mals von vorne beginnen, denn diesen Ort gibt es bestimmt nebst all den unzähligen Räumen, Koridoren und Treppen. Ihre Not ist gross. Madame muss sich beeilen. Sie hat ihn gefunden, den Wegweiser. Jetzt gut aufgepasst, um nicht zu verpassen, das Örtchen, das Madame nun so dringend braucht. Da endlich. Auf dieser Glastür steht es ganz deutlich, Toiletten. Sie will hineingehen. Die Tür ist verschlossen. Sie stösst noch mals, die aber öffnet sich nicht. Jetzt, ganz unerwartet, ein Herr hinter ihr, wirft einen Jeton in den Schlitz neben der Tür und sagt: "Sie können gleich mit mir kommen." Sie möchte sagen: ich aber muss zu den Frauen gehen. Die Zeit ist kurz und die Not sehr gross. Hinter der Glastür eine neue Welt, die sich ihr öffnet. Wieder Treppen und Korridore, enorm verschwenderisch wurde hier mit Platz umgegangen. Und dann trennen sich ihre Wege. Er hat ihr geholfen. Sie schmunzelt. Nur kurz haben sich ihre Augen getroffen. -- Die Erlösung ist gekommen. Beinahe ein orgastisches Gefühl für Madame.
Vom Essen der Krevetten sind ihre Finger schmierig, eine gute Gelegenheit, um sich die Hände zu waschen. Nun steht sie da, vor den Lavabos, sucht nach Wasserhahnen oder Knöpfen, auf Boden und Wänden. Sie geht von einem Lavabo zum andern, und weiss nicht wie das Wasser kommt. Es gibt Menschen die verstehen besser. Eine Ausländerin beobachtet sie und hilft. Deutet ihr, die Hände dort hinzuhalten wo das Wasser kommen sollte. Sie versteht nicht, tut aber, wie sie geheissen wurde. Und staune, das Wasser kommt. Handwarm kommt es. Es fliesst und fliesst, bis Madame die Hände wegzieht. Dann noch zum Föhn, um die feuchten Hände zu trocken. Madame lacht und geht erleichtert zurück zu Sebastian, der sich bereits gefragt hatte, wo dass seine Madame wohl stecken geblieben sei. -- In der Neuzeit meint sie lachend.

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