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Kurzer Auszug
Marianne hatte in dieser Nacht sehr unruhig geschlafen.
Obschon es bereits recht spät war, kam ihr die Nacht so lange vor, als
wolle sie überhaupt nicht mehr zu Ende gehen. Sie wurde von den wildesten
und verrücktesten Träumen geplagt. Immer wieder sah sie ihre Schwester
Daniela, wie sie ihr aus der Weite zuwinkte, als wäre dies zum Abschied,
und dann jedesmal die tote Hand mit dem Ehering, das einzige Indiz für
den Tod ihrer Schwester, nachdem mann den vom Zug zerrissenen Körper
gefunden hatte. All die alten Geschichten stiegen in ihr empor. Sie
sah das Lachen ihrer Schwester von dem Abend, als sie ihr erklärt hatte,
wie froh sie wäre , wenn sie, Marianne, nun wieder nach hause ginge,
da ja morgen Mutter und Vater zu ihr auf Besuch kämen und sie es ohne
sie schöner zusammen hätten; dabei hatte sie ihr während einer Woche
nach der Geburt ihres ersten Kindes geholfen. Dieses Lachen verfolgte
sie die ganze Nacht, als wollte es ihr sagen, nie hast du mich wirklich
gekannt. Mein ganzer Stolz auf meine eigene Familie und die wunderbare
Familienharmonie musste ich dir und all den Menschen um mich herum mein
ganzes Lebenlang vorspielen; nicht anders, als dies auch unsere Mutter
getan hat. Dann verzerrte sich ihr Gesicht in eine maskenhafte Fratze,
voller Schadenfreude, bis es sich dann in Verzweiflung, blutüberströmt,
in sich auflöste. Dann wieder der herannahende Zug, der Schrei, die
Verzweiflung, das spritzende Blut, und schon wieder die Hand, die ihr
zuwinkt, als wolle sie ihr sagen: komm zu mir, ich warte auf dich. Und
jedesmal wenn sie sich dieser Hand nähern wollte, nur noch die tote
Hand neben verrissenen Körper- und Kleiderfetzen. Darauf Urs, ihr Mann,
die Kinder und Doris, seine Freundin, die ihr im Traum lachend entgegenkommen,
sich darüber freuen, dass sie all die Bilder nicht mehr länger ertragen
kann, schreit und sich übergibt, als wollten sie ihr sagen, lass die
Harmonie sie ist verlogen, dies wissen wir alle, aber auch du erträgst
die Wahrheit nicht. An dieser Wahrheit wirst du ersticken, denn sie
kann kein einziger Mensch ertragen. Mach dir keine Sorgen über Daniela,
die ruht nun ganz friedlich im Ewigenschlaf, denn auch sie konnte die
Wahrheit nicht ertragen und musste deshalb sterben. Das Einzige, was
von ihrem Wunsch, die Wahrheit zu leben, geblieben ist, ist die tote
Hand mit ihrem Ehering und ein vom Zug zerfetzter Körper; nicht mehr
als ein wenig Asche, die wir zur Erde getragen haben -- weg ist die
ganze Not und die Harmonie wieder hergestellt. Mit diesen Worten wuchsen
Urs und Doris jeweils zu zwei allesüberwältigenden Riesen heran, noch
immer mit ihrem friedfertigen Lächeln auf dem Gesicht und einem Wölkchen
über ihren Köpfen, als wären sie zwei Heilige, um nun alles, was sich
auf der Erde noch aufbäumt und schreit, ruhigen Schrittes dem Erdboden
gleich zu machen; an ihren Beinen die sich festhaltenden und um Erbarmen
schreienden Kinder. Dann wieder Mutter und Vater mit Wolfsgesichtern,
in einander verkrallt. Blut, das über das ganze Land spritzt, ihre Eltern,
die sich auffressen und sich dieser Erde opfern wollen, um endlich zu
vergessen, schreien einander in Qual und Lust zu: du musst vergessen,
denn das Wissen erträgt kein Mensch -- und wieder das Heulen der Wölfe,
jetzt ein ganzes Rudel, denn vermehrt haben die sich in einer Geschwindigkeit,
dass ihrem Tun kaum zu folgen war. Jetzt das ganze Rudel, das mit offenen
Mäulern und fletschenden Zähnen ihr entgegen kommt, mit ihrem verzerrenden
Schrei, der sagt: hier wird alles vernichtet, was sich nicht vermehren
will. Nun schreit und springt auch sie dem Rudel davon, jedoch vergeblich,
denn immer näher kommen die Wölfe, und jetzt -- sie beissen zu, und
wieder ihre Schwester, ihr Lachen und die Fratze, ihre Hand, die sie
heranwinkt, der Zug, der Schrei, das Blut, Körperteile, die um sie herumfliegen
-- und sie, die sich schweissgebadet in ihrem Bett herumwirft, um nicht
mehr länger von diesen Träumen verfolgt zu werden; den heranbrechenden
Tag kaum erwartend, die einzige Hoffnung, dass er sie von diesen Träumen
erlösen und befreien werde. --
Email: erufer@bluewin.ch
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